19/07/2025

Es ist Samstag, kurz nach Mittag, und auf SRF 1 wuchtet sich der nächste Hüne ins Sägemehl. Stundenlang rollt das Bild vom Bödeli in die Stuben der Nation, begleitet von sonorer Fachkommentierung, kernigen Porträts und der obligatorischen Alphornmusik. Die Schweiz schaut Schwingen – oder soll es jedenfalls.

Man mag darüber streiten, ob es medienpolitisch klug ist, an einem Sendeplatz mit hohem Publikumswert so viel Raum einer Sportart zu widmen, deren Aktionsradius im Wesentlichen auf die Deutschschweizer Bergtäler und Voralpenkantone begrenzt bleibt. Aber der Befund ist eindeutig: Was da Samstag für Samstag auf den Bildschirm gehoben wird, ist mehr als ein Sportereignis – es ist programmierte Heimatpflege.

Schwingen ist ein Ritual, eine Männerweihe im Trachtenhemd, eine Inszenierung von Kraft und Respekt. Es ist ein Gegenbild zur nervösen Beschleunigung der Moderne, zur Ironie der urbanen Selbstentfremdung, zum globalisierten Sportbetrieb. Im Sägemehl gilt nicht der Marktwert, sondern das Gstalts, der Charakter, das Anständige. Wer einen Eidgenossen bezwingt, reicht ihm danach die Hand, bürstet ihm das Sägemehl vom Rücken – und verliert sich nicht in infantiler Siegerpose.

SRF bedient mit dieser Bildsprache ein Bedürfnis, das in der Schweiz tief sitzt: das Bedürfnis nach Verortung, nach einer Welt, die noch im Gleichgewicht scheint. Insofern ist die samstägliche Schwingsendung nicht nur Fernsehunterhaltung, sondern ein kultureller Dienst. Doch genau hier liegt auch das mediale Risiko. 

Zwar verdient es Anerkennung, dass die SRG mit der Ausstrahlung alpenländischer Brauchtumsveranstaltungen – etwa der Schwingfeste – ihrem Service-public-Auftrag gerecht werden will, das „Eigenartige“ der Schweiz sichtbar zu machen. Doch diese kulturelle Verengung erweist sich als medienpolitisch problematisch: Mit der einseitigen Fixierung auf „Brauchtum“ wie Schwingen werden andere Realitäten der heutigen Schweiz – etwa die urbane, diverse, postmigrantische Gesellschaft – systematisch ausgeblendet. Ein solcher Fokus erfüllt den Service-public-Auftrag der SRG entsprechend höchst unvollständig.



Pro memoria: Ausstrahlungen im Juli  2025:

    •    6. Juli: Innerschweizer Schwing- und Älplerfest in Seedorf UR – Live auf SRF 1, von 07:20 bis 12:05 und 13:05 bis 17:30  

    •    7. Juli: «Schwingklub – der Talk» auf SRF 1, von 22:25 bis 23:10 (rückblickende Talksendung)  

    •    13. Juli:

        •    Bernisch-Kantonales Schwingfest in Langnau i.E. BE – Live auf SRF 1, von 07:45 bis 12:05 und 13:05 bis 17:30  

        •    Rigi Schwinget (Rigi SZ/LU) – Live auf srf.ch/sport und SRF Sport App, von 08:30 bis 16:55  

    •    14. Juli: «Schwingklub – der Talk» auf SRF 1, von 22:25 bis 23:10  

    •    19. Juli: Weissenstein-Schwinget SO – Live auf SRF 1, von 08:20 bis 12:05 und 13:05 bis 17:25  

    •    27. Juli: Brünigschwinget OW – Live auf SRF 1, von 07:50 bis 12:05 und 13:05 bis 17:25  

    •    28. Juli: «Schwingklub – der Talk» auf SRF 1, von 22:25 bis 23:10 










Zwei deutsche Erinnerungen

18/07/2025

Zwei deutsche Erinnerungen: Martin Walsers „Ein springender Brunnen“ und Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“


Die Betrachtung des Nationalsozialismus durch zwei deutsche Autoren offenbart ein Spannungsfeld zwischen erinnerter Subjektivität und analytischer Reflexion. In Martin Walsers autobiografisch geprägtem Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) sowie in Sebastian Haffners retrospektivem Werk „Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933“ (postum veröffentlicht 2000) begegnet die Leserschaft einer Gesellschaft im Wandel, wobei sich die jeweiligen Perspektiven deutlich unterscheiden.


Kindheit in der Dämmerung – Martin Walser


Walser schildert in „Ein springender Brunnen“ die Kindheit einer Hauptfigur in der süddeutschen Provinz der 1930er-Jahre. Der erzählte Erfahrungshorizont ist begrenzt auf das familiäre Umfeld, die Schule und die unmittelbare Umgebung. Der Nationalsozialismus manifestiert sich für das Kind nicht als explizite Ideologie, sondern als veränderte Alltagsrealität: Neue Lieder, Uniformen und Rituale lassen gesellschaftlichen Wandel spürbar werden. Die kindliche Wahrnehmung bleibt jedoch fragmentarisch, von Irritation und einer unausgesprochenen Unruhe geprägt. Walser gelingt so eine atmosphärische Annäherung an eine Epoche, deren Komplexität aus kindlicher Perspektive nur partiell nachvollzogen werden kann. Die daraus resultierende Ambivalenz verweist darauf, wie politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse unbemerkt das individuelle Leben beeinflussen können. Die Darstellung bleibt frei von Anklage und zeichnet ein leises Bild des Erwachsenwerdens im Schatten einer autoritären Herrschaft. 


Bewusstwerdung im Exil – Sebastian Haffner


Sebastian Haffner hingegen schildert seine Erfahrungen als junger Jurist während der Endphase der Weimarer Republik und verarbeitet sie im Exil in England zu einer reflektierten Gesellschaftsanalyse. „Geschichte eines Deutschen“ ist kein klassisches Erinnerungswerk, sondern eine differenzierte Selbstbeobachtung. Haffner beschreibt seinen eigenen politischen Entwicklungsweg, analysiert die Dynamiken von Gleichgültigkeit, Angst und Anpassung und legt dar, wie diese Faktoren die Machtergreifung des Nationalsozialismus begünstigten. Das Werk ist von einem analytischen Ernst geprägt und thematisiert die Verantwortung des Einzelnen ebenso wie strukturelle Entwicklungen. Es versteht sich als Beitrag zur politischen Selbstaufklärung und betont die Bedeutung individueller Integrität angesichts kollektiven Versagens.


Zwei Perspektiven, zwei Funktionen


Beiden Werken gemeinsam ist die kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen des historischen Umbruchs. Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Während Martin Walser das Erleben und Nichtverstehen ins Zentrum rückt, fokussiert Sebastian Haffner auf Analyse und Erkenntnisgewinn. Walser vermittelt Eindrücke, Stimmungen und subjektive Fremdheit; Haffner argumentiert klar, beschreibt Rückzugstendenzen und hebt moralische Implikationen hervor. Besonders relevant für juristische Fachkreise ist Haffners rechtsstaatlicher Bezug: Zwar war Haffner kein praktizierender Jurist, seine publizistischen Schriften basieren jedoch auf einem ausgeprägten Bewusstsein rechtsstaatlicher Prinzipien. Seine Überlegungen in „Geschichte eines Deutschen“ verdeutlichen, wie ein Rechtsstaat durch Vernachlässigung ethischer Grundlagen erodieren kann, wie bedeutsam persönliche Standhaftigkeit im Rechtssystem ist und dass der Niedergang des Rechtsstaats schleichend und graduell erfolgen kann.


Zusammenfassend repräsentieren Martin Walser und Sebastian Haffner beispielhaft zwei unterschiedliche Formen deutscher Erinnerungskultur: Einerseits die unsichere, fragmentarische Gedächtnisarbeit der Kindheit, andererseits die distanzierte, kritische Analyse des Erwachsenen. Walsers emotionalisierende Narration kontrastiert mit Haffners nüchternem Zugriff. Walser muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er durch seine Rhetorik zur Vernebelung des Nationalsozialismus beigetragen hat. Sebastian Haffner gelingt in „Geschichte eines Deutschen“ ein seltener Spagat: ein hochpolitisches Werk von persönlicher Tiefe und sprachlicher Eleganz. Es ist ein Lehrstück über die Sprache als Medium historischer Selbstvergewisserung – und ein zeitloses Beispiel für die Kraft des Schreibens gegen das Vergessen und auch politisch höchstaktuell.


20250718/JMB